Eine Transkreation aus dem Englischen von Juliane Wissmann
Fernsehwerbung in anderen Ländern anzusehen ist unglaublich unterhaltsam. Es ist faszinierend, wie sehr sich diese von Land zu Land unterscheidet und welche Einblicke sie in die Mentalität der Menschen bietet. Als ich in den 90ern bei einem Schüleraustausch in Deutschland war, machte es mir Riesenspaß, mir deutsche Werbung anzusehen oder zu hören. Sie war so anders als das, was ich gewohnt war. Und beim Mitsingen von Jingles wie „Knorr, Essen mit Lust und Liebe!“ und „Haribo macht Kinder froh und Erwachsene ebenso!“ lernte ich auch noch etwas über die deutsche Sprache und Kultur.
Der Haribo-Jingle wurde in den 60ern zum ersten Mal in Deutschland ausgestrahlt und ist längst auch auf Englisch als „Kids and grown-ups love it so, the happy world of Haribo!“ bekannt. Lange bevor er seinen Weg in englischsprachige Lande fand, lachte ich mich über die Version meiner Austauschpartnerin kaputt: „Katzenklo macht Katzen froh!“ Ja, ich weiß, komischer Humor, aber wir hatten damals noch kein TikTok…
Schluss mit den Klischees
Durch meine Arbeit als Übersetzerin wurde mir bewusst, dass deutsche Werbung oft den Ruf hat, langweilig zu sein. Besonders im Vergleich zur US-amerikanischen, die generell als schriller, lustiger und innovativer gilt. Das liegt möglicherweise an den Klischees, die den Deutschen nachgesagt werden, z. B. Ordentlichkeit und Präzision. Der schon etwas in die Jahre gekommene, aber dennoch kultige Werbespot von Citroën „Unmistakably German“ fasst diese Vorurteile wunderbar zusammen.
Nun, wir wissen alle, dass Klischees nicht der Wahrheit entsprechen. Darum habe ich ein wenig nachgeforscht, um mehr über den Werbestil in Deutschland im Vergleich zu US-amerikanischer Werbung zu erfahren. Ich wollte herausfinden, ob deutsche Werbung wirklich so langweilig ist.
Eine Frage des Budgets
Laut einem Bericht der Industrie- und Handelskammer zu Düsseldorf aus dem Jahr 2019 geben US-Unternehmen 38 % ihres Gesamtbudgets für Marketing aus – deutsche Unternehmen investieren weniger als die Hälfte davon. Das niedrigere Budget könnte einer der Gründe sein, warum deutsche Werbeagenturen weniger Spielraum für kreativen und innovativen Output haben als ihre amerikanischen Kollegen.
Wer entscheidet: Kopf oder Bauch?
Neben Budgetfragen gibt es weitere Faktoren, die sich auf den Werbestil in den beiden Ländern auswirken. Generell tendieren deutsche Konsumenten dazu, kopflastig zu entscheiden, während US-amerikanische Verbraucher eher ihrem Bauchgefühl folgen. Darum werden in deutschen Werbespots häufig viele Fakten und Zahlen genannt, die den Konsumenten helfen, kluge und rationale Entscheidungen zu treffen. US-amerikanische Spots wiederum sprechen das Publikum vor allem auf emotionaler Ebene an.
In der Lebensmittelbranche rücken viele deutsche Werbespots beispielsweise die Qualität der Produkte in den Fokus, indem sie u. a. Informationen zu den Nährwerten und Zertifikate nennen. Brauereien etwa bedienen sich häufig des Reinheitsgebots als Beweis für die Qualität ihrer Biere und Lebensmittelhersteller in Deutschland weisen gerne auf die Bewertung hin, die ihre Produkte von Stiftung Warentest erhalten haben.
Im Gegensatz dazu liegt der Fokus in US-amerikanischen Werbespots darauf, welche Gefühle die Produkte auf sensorischer und emotionaler Ebene auslösen. Diese Liste der 25 besten Werbespots für Lebensmittel im Jahr 2021 gibt uns einen kleinen Vorgeschmack. Nehmen wir den Claim einer englischsprachigen Werbeanzeige von Nutella: In schokoladigen Lettern heißt es: „Please do not lick the page“. So werden Konsumenten geschickt dazu gebracht, sich vorzustellen, wie das Produkt auf der Zunge zergeht und schmeckt.
Qualitätsgarantie
Laut einer Arbeit von Yannick Kluch möchten die Deutschen gern wissen, woran sie sind. Vorhersehbarkeit spielt hier eine wichtige Rolle. Das erklärt, warum in vielen deutschen Werbespots so viele Fakten, Zertifikate und Testimonials von Experten eingebaut werden. Der Slogan von Persil – „Da weiß man, was man hat“ – spricht dafür, dass deutsche Konsumenten gern Produkte kaufen, die sie kennen und deren Qualität garantiert ist.
Im englischsprachigen Raum arbeitet Persil mit ganz anderen Slogans: „Dirt is good“. Hier geht es nicht darum, die Konsumenten von der Qualität des Produkts zu überzeugen. Damit soll vor allem ein Gespräch in Gang gebracht und Spannung erzeugt werden.
Tradition in Person
„Qualität“ ist eins der Wörter, die in deutschen Werbespots am häufigsten verwendet werden – dicht gefolgt von „Tradition“. Ein Unternehmen, das schon seit vielen Jahrzehnten besteht, vermittelt deutschen Verbrauchern die gewünschte Sicherheit. Traditionsunternehmen wie Pelikan (Schreibwaren), Meindl (Wanderschuhe) und Villeroy & Boch (Keramik), nutzen jede Gelegenheit, auf ihre Jahrhunderte lange und noble Geschichte hinzuweisen. Das zeugt von der Expertise des Unternehmens und der Qualität seiner Produkte.
In den 60ern und 70ern ging Tchibo sogar so weit, die Konzepte „Tradition“ und „Expertise“ zu personifizieren: Damals reiste der Tchibo-Mann, ein Kaffee-Experte, auf der Suche nach der feinsten Kaffeebohne um die Welt.
Es gibt auch US-amerikanische Werbespots, die in die Vergangenheit blicken. Allerdings sollen diese Spots nicht die Glaubwürdigkeit des Produkts unterstreichen, sondern Gefühle wie Nostalgie und Sentimentalität wecken. US-amerikanische Werbung spiegelt grundsätzlich eine zukunftsgewandte Denkweise wider. Es geht eher um Innovation als um Tradition.
Superlativismus
Ein weiterer Unterschied zwischen deutscher und US-amerikanischer Werbung liegt im Gebrauch von Superlativen. US-amerikanische Werbespots wirken grundsätzlich mutiger und bestimmter, Produkte werden als „most unique“, „world’s best“ und „the very ultimate“ bezeichnet. Der Slogan von Gilette zeigt dies ganz deutlich: „Best a man can get“. Budweiser nennt sich selbstbewusst den „King of Beer“ und die Marke Coors behauptet, „The World’s Most Refreshing Beer“ zu brauen. Im Vergleich dazu sind deutsche Unternehmen zurückhaltender und bescheidener.
Heimat und Ferne
Laut Yannick Kluch richten US-amerikanische Werbespots den Blick eher ins Landesinnere, während deutsche Werbetreibende sich gern von der weiten Welt inspirieren lassen. Die Flagge der USA ist oft in US-amerikanischen Werbespots zu sehen und steht für Stärke und Nationalstolz. Dazu verwenden Marken wie Levi’s, Ford, Jack Daniels und Coca Cola auch andere US-Symbole in ihren Werbespots, z. B. den Weißkopfseeadler, die Rocky Mountains oder Cowboys.
Anders als in den USA ist es für deutsche Werbetreibende äußerst untypisch, Symbole für Nationalstolz aufzugreifen. Das liegt u. a. daran, dass die meisten Deutschen ein schwieriges Verhältnis zum Patriotismus haben. Der Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober wird beispielsweise längst nicht so groß gefeiert wie der US-amerikanische Independence Day am 4. Juli.
Statt sich nur auf Deutschland zu konzentrieren, blicken deutsche Werbetreibende gern in die weite Welt und greifen Themen wie Reisen, Abenteuer und ferne Länder auf. Gute Beispiele dafür sind der Slogan von Erdinger Weißbier – „In Bayern daheim, in der Welt zuhause“ – und das Segelschiff, das in Werbungen von Beck’s Bier für gewöhnlich auf dem offenen Meer über die Wellen gleitet.
Vorsprung durch Kreativität
Wie meine Recherchen bisher gezeigt haben, ist deutsche Werbung im Vergleich zur US-amerikanischen eher faktenbasiert, zurückhaltend, auf Tradition fokussiert und in die Ferne gerichtet. Vermutlich ist es das Bedürfnis deutscher Verbraucher nach Fakten und Sicherheit, das dazu führt, dass Werbespots weniger kreativ und innovativ wirken.
Allerdings habe ich festgestellt, dass diese Einschätzung nicht auf die gesamte deutsche Werbelandschaft zutrifft: Es gibt viele gute Beispiele dafür, dass deutsche Werbung genauso kreativ und innovativ sein kann wie US-amerikanische. Und das trotz der schmäleren Budgets.
Wie Yannik Kluch schreibt, ereignete sich zu Beginn der 2000er Jahre ein Umschwung in der deutschen Werbelandschaft. Die Spots wurden moderner, diverser und kreativer und Werbetreibende begannen, immer mehr mit Emotionen und Techniken wie dem Storytelling zu arbeiten.
Es war einmal vor langer, langer Zeit…
Viele moderne deutsche Werbetreibende nutzen Storytelling äußerst geschickt, um Aufmerksamkeit zu erregen und ihr Zielpublikum auf emotionaler Ebene anzusprechen. Ein sehr gutes Beispiel dafür ist die Weihnachtskampagne des Pharmazieunternehmens DocMorris aus dem Jahr 2020, die die sozialen Medien weltweit im Sturm eroberte.
Unterlegt mit einem bewegenden Soundtrack zeigt der Werbespot einen alten Herrn, der in den Wochen vor Weihnachten jeden Tag früh aufsteht, um wieder in Form zu kommen. Man sieht, wie er seine rostige alte Hantel aus dem Schuppen holt und anfängt zu trainieren. Seine Nachbarn und seine Tochter halten ihn für verrückt. Aber alles klärt sich in der letzten Szene, in der er an Heiligabend seine Familie besucht.
Der alte Mann überreicht seiner 5-jährigen Enkeltochter ein Geschenk: einen glitzernder Stern. Dann holt er tief Luft und hebt sie mit seinen wieder erstarkten Armen hoch. So kann sie den Stern auf die Spitze des Weihnachtsbaums setzen. Der Spot endet mit dem Satz: „Damit Sie sich um das kümmern können, worauf es im Leben wirklich ankommt.“ Diese Szene geht mir immer wieder ans Herz – für mich der Beweis, dass deutsche Werbung kreativ und berührend sein kann.
Supergeil
Mark Twain sagte einmal: „Ein deutscher Witz ist nichts zum Lachen“. Möglicherweise hat er damit zum unglücklichen Klischee beigetragen, Deutsche hätten keinen Sinn für Humor. Aber auch hier beweisen ein paar Beispiele das Gegenteil. Es gibt eine Menge deutscher Werbespots, die unglaublich witzig, abgefahren und unterhaltsam sind.
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist die „Supergeil“-Werbung von Edeka, die zum Social-Media-Hit wurde. Darin spricht und singt Musiker Friedrich Liechtenstein mit seiner tiefen, rauchigen Stimme zu langsamer Musik darüber, wie „supergeil“ der Einkauf im Supermarkt sein kann. Im Werbespot sieht man, wie er mit Models durch die Regalreihen tanzt, vollständig bekleidet in Milch badet und einen Hot Dog wie eine Zigarre raucht – ein wunderbar amüsanter und ironischer Werbespot.
Auch der Leasing-Werbespot von VW ist ein tolles Beispiel. Darin sind Erwachsene zu sehen, die wie in Katzenvideos ihr eigenes Spiegelbild anfauchen oder Fellknäuel aushusten.
Die Werbespots von Hornbach sind mit die lustigsten und cleversten deutschen Werbespots, die ich je gesehen habe. Der Frühlingsspot 2022 zeigt eine Horde Unkraut und Gartenabfälle, die wie Teenager auf Spritztour durch die Nachbarschaft eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Der Spot endet mit der Tagline: „Komm zu HORNBACH. Bevor es Dein Garten tut.“
Ach Jochen!
Deutsche Werbetreibende schrecken auch nicht davor zurück, Komik durch sexuelle Anspielungen zu erzeugen. In einem Werbespot stellt sich MediaMarkt als Heilmittel für das moderne Leben dar und zeigt eine Reihe frustrierender und peinlicher Alltagssituationen, darunter eine Naked Yoga-Session. Was Schimpfwörter angeht, sind deutsche Werbungen ganz und gar nicht konservativ. Ein Werbespot des Lebensmittelherstellers Du darfst endet mit „Fuck the diet“. Auch die Stadt Berlin nutzte schockierende Werbebotschaften, um ihre Bewohner in der Pandemie dazu zu bewegen, sich an die Maskenpflicht zu halten: Im Zuge der Kampagne „Der erhobene Zeigefinger für alle ohne Maske” veröffentlichte die Stadt Werbefotos einer Seniorin, die den Mittelfinger zeigt.
Alles dreht sich um Innovation
Wer glaubt, deutsche Werbung sei nicht sonderlich innovativ, sollte nochmal genauer hinsehen. Ich habe viele Kampagnen und Werbegags gefunden, die belegen, dass Deutschland in Sachen zukunftsgerichteter Werbung ganz vorne mitmischt.
Die Brauerei Astra etwa verwendet die neuesten Technologien zur Gesichtserkennung für personalisierte Werbespots. Je nachdem, ob ein Zuschauer oder eine Zuschauerin sich dem Werbeschild nähert, wird ihm bzw. ihr ein anderer Werbespot abgespielt. Und Minderjährigen wird auf humorvolle Weise mitgeteilt, dass diese Werbung nicht für sie gedacht ist.
Die Marke Powerrade hat sogar interaktive Reklamewände gebaut und bietet damit „Workouts“ an. Mit den rotierenden Kletterwänden motiviert der Sportgetränke-Hersteller sein Zielpublikum zum Mitmachen und Spaßhaben.
Aber das beste Beispiel für innovative deutsche Werbung ist für mich die Weihnachtskampagne der Berliner Verkehrsbetriebe von 2021. Die in Hanföl getränkten Tickets helfen den Passagieren des BVG, den vorweihnachtlichen Stress zu überstehen. Diese geniale Idee greift den Trend rund um das Thema Wohlbefinden mit Witz und Einfallsreichtum auf.
Eine bunte Auswahl für jeden Geschmack
Als ich mit meinen Recherchen für diesen Artikel begann, hielt ich deutsche Werbung im Vergleich zu den ausgefalleneren amerikanischen Werbespots für gut, aber etwas lau – ein bisschen so wie Kamillentee. Wie sich herausstellte, lag ich damit falsch. Ja, deutsche Werbetreibende wollen durchaus das Bedürfnis nach Vorhersehbarkeit und Glaubwürdigkeit deutscher Konsumenten befriedigen. Aber eine Vielzahl an Beispielen zeigt, dass deutsche Werbung ebenso unterhaltsam, emotional und einfallsreich sein kann wie die US-amerikanische.
Ein flüchtiger Blick auf Werbespots in verschiedenen Ländern lässt zwar Rückschlüsse auf kulturelle Einstellungen zu, Generalisierungen sollte man aber trotzdem unbedingt vermeiden. Nicht jeder US-amerikanische Werbespot ist aufregend und humorvoll und nicht jeder deutsche Spot ist traditionsverhaftet und ernst.
Die Frage ist also nicht, ob deutsche Werbung eher Kamillentee oder fruchtiger Bubble Tea ist – sie hat definitiv von beidem etwas zu bieten.